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Mein Blick auf die Geschichte meiner Vorfahren

Wenn ich an meine frühe Kindheit zurückdenke, dann sehe ich meinen Vater lachend, wie er meint:“ Ich bin halt ein Flüchtling“ Lange wusste ich nicht genau was das war „ein Flüchtling“ nur, dass es irgendetwas bedeutete, das wohl nicht so toll war, das man besser verschwieg. Ich hörte meine Eltern oft sagen: „Besser nicht darüber zu reden“. Ich weiß, dass mein Vater, der nicht nur optimistisch und äußerst gesellig war – sondern auch sehr humorvoll, lachen würde, wenn man heute zu ihm „Geflüchteter“ sagen würde.  Meine Freundinnen und Freunde im Badischen meinten oft, dass ich ja Hochdeutsch reden würde – anders als sie – aber sie meinten das nett…“ Tatsächlich bin ich „zweisprachig“ aufgewachsen – wie ich oft spaßeshalber meinte: schwäbisch-badisch und hochdeutsch. Letzteres eben von meinem ostpreußischen Vater gelernt. Auch an seine Eltern erinnert ich mich noch genau obwohl ich vier war als mein Großvater starb und 14 als meine Großmutter ging – natürlich mehr an sie: Meine ostpreußische Oma sprach deutlich diesen Dialekt, der aus jedem g ein j machte: Jünter Staat Günther wie mein Vater hieß. Diese Oma und Opa mussten mit über 60 fliehen aus ihrem geliebten Ostpreußen und alles hinter sich lassen, was sie hatten; Ich bin deshalb immer beschwichtigend, wenn Immobilien als sichere Anlagen gepriesen werden… Im Januar 1945 begaben sie sich auf die Flucht – vorher durfte sich niemand auf den Weg machen: dies wurde bis zum allerletzten Moment bestraft. Doch heimlich packten sie schon oder schickten Pakete an Bekannte im Westen – soweit dies ging. Mein Vater war das letzte Mal Weihnachten ´44 dort, um ein letztes Mal dieses Christfest in seiner Heimat mit seinen Eltern zu verbringen – sie alle wussten aber, dass sie bald gehen mussten. Knapp vier Wochen später war es dann so weit: Die Kirchglocken läuteten in Passenheim bei Allenstein: das hieß Aufbruch mit dem Pferdekarren an die Küste ans Haff. Sie hatten Karten für die Gustloff und hofften auf eine schnelle Überfahrt. Doch meine Großmutter wurde krank und so duften sie nicht mit: Ihre Rettung. Mit einem anderen Schiff gelangten sie später nach Dänemark und waren dann zwei Jahre im Internierungslager bis mein Vater über das Rote Kreuz in Erfahrung bringen konnte, dass seine Eltern lebten und wo – so konnte er sie holen.

 

Mein Vater war im Krieg in jungen Jahren als Funker in Norddeutschland eingesetzt und deshalb bei Kriegsende nicht in seiner Heimat. Nach kurzer englischer Kriegsgefangenschaft dort, schlug er sich nach Süddeutschland durch. Er kam nach Wochen in Pforzheim an, in einer Stadt, die im Februar ´45 fast vollständig zerstört worden war – mit dem was er auf dem Leib hatte: abgetragene, verschlissene Kleider. Mein Vater machte sich vom ersten Tag an nützlich – half im Handwerk mit wo es ging – soweit es für ihn als gelernten Kaufmann möglich war. Doch er war ein unerschütterlicher Optimist und meinte stets: „Ich war jung und hatte überlebt  – der Krieg war vorbei und ich hatte eine neue Chance bekommen. „Wir hatten zwar alles verloren und kamen als Flüchtlinge in eine Stadt, die selbst Not litt und kaum Wohnraum vorhanden war und deshalb Flüchtlinge verständlicherweise von vielen nicht offenen Armen empfangen wurden, aber ich tat mein Bestes, um hier anzukommen und mich einzugewöhnen, einzuleben. Der Sport war eine große Hilfe“. Mein Vater war Leichtathlet und hat sich gleich der örtlichen Sportgruppe angeschlossen, die sich bald zusammenfand. Ja Sport war auch sein Leben und er hat dies an uns Kinder weitergegeben. Danke Papa – auch hierfür. Erst junge Frau verstand ich wirklich, was es bedeutete „Flüchtling“ zu sein, seine Heimat, seine Wurzeln aufgeben zu müssen: Von „heute auf morgen alles zu verlieren neu anfangen zu müssen und sozial degradiert zu werden. Wie gesagt, war mein Vater durch und durch Optimist und er baute sich tatsächlich mit meiner Pforzheimer Mutter eine Existenz auf und ich kann sagen, wir wurden wirklich die Wohlstandsgeneration. Aber für meine ostpreußischen Großeltern war es sehr schwer nach erfolgreichem Leben plötzlich arm zu sein und eben „Flüchtlinge“. Später bekamen sie „Lastenausgleichszahlungen“ – einige 1000 Mark: ein Bruchteil dessen, was sie besaßen. Mein Vater meinte lachend hierzu: „Besser sie hätten den Lastenausgleich „Lasst den Ausgleich“ genannt.“

Mein Vater sprach kaum über seine Heimat – und wenn dann nur, dass er eine unglaublich schöne Kindheit und Jugend hatte an der Masurischen Seenplatte mit Bootsfahrten jeden Tag und Pferde-Eis-Skaten im Winter sowie Ski-Weitsprung, wobei mein Vater sehr erfolgreich war: so durfte er als Jugendlicher bei Meisterschaften in Bayern teilnehmen und zum ersten Mal per Zug durch den „Korridor“, der nach den Gebietsverlusten des Ersten Weltkriegs Ostpreußen mit Rest-Deutschland verband.

Mein Vater ist nach dem Krieg nie zurückgekehrt in seine Heimat – obwohl dies möglich gewesen wäre. Er meinte immer, dass er die Erinnerung bewahren wollte und sein Elternhaus wäre eh zerstört.  Wir akzeptierten dies und stellten kaum Fragen, wie gesagt als Kinder begriffen wir ja auch nicht wirklich, was „Flüchtling“ und alles was damit zusammenhängt, genau bedeutet. Auch den Schmerz, den vor allem meine Großeltern erlebten, verstand ich (annähernd) wirklich erst spät – wenn dies überhaupt geht. Etwas anders ist es, wenn ich als Arbeitsmigrant irgendwo hingehe, um ein besseres Leben zu finden.

Als junge Frau wollte ich sehen, woher mein Vater kam, wo er aufgewachsen war. Damals noch zu Ostblockzeiten war der Eindruck ernüchternd: Der Ort, wie mein Vater ihn geschildert hatte als blühendes Städtchen, war ein heruntergekommener Ort, trist und ein Laden mit wenig Auswahl an Lebensmitteln stand am Platz des Hauses meiner Großeltern. Die Dias der Reise wollte mein Vater nicht sehen.

Später besuchte ich  – bis jetzt – noch drei Mal Passenheim, das jetzt Pasym heißt und Olstyn, das frühere Allenstein in der Nähe – nun wirklich schöne Orte mit viel Geld saniert. Mir war es auch wichtig, dass meine Kinder diese Lebensorte ihres Großvaters sehen und erleben, solange er noch lebte. Er hat sich über unser Interesse gefreut, aber seine Sorge war, ob es uns gefallen hat – aber wir konnten ihn beruhigen: Wir hatten einen wirklich schönen Familienurlaub in seiner alten Heimat.

Nur: ein-zweimal war ich allein in dem Ort, aus dem auch meine Wurzeln stammen und regelmäßig kamen mir dann die Tränen – einfach so  – als ob eine schwere Last auf meine Schultern drückte: Ich kann nicht genau erklären, was es war: Vielleicht die Trauer über das, was hier passiert ist. Es heißt ja auch, dass Traumata vererbt werden… Zum 90. Geburtstag meines Vaters setzte ich mich vorab mit ihm zusammen und stellte Fragen und er erzählte alles nun ausführlich mit einem erstaunlichen Gedächtnis, sein ganzes Leben, die Flucht seiner Eltern – seine Kriegs- und Nachkriegszeit und ich machte ein Büchlein daraus, das es in zwei Exemplaren gibt. Eines für meinen Bruder und eines für mich. Ich hoffe, dass unsere Kinder diese hüten und weitergeben – und so immer im Familienbesitz bleiben. Die Familie meiner Mutter war immer präsent – wir lebten mit ihr und ihrer Geschichte an ihrem Ort. Das Leben meines Vaters, seine Herkunft und seine Familiengeschichte waren wie ein „schwarzes Loch“ – ich hoffe, dass dieser Teil unserer Wurzeln durch die Erinnerung an Günther Grönbeck und auch durch die niedergeschriebene Erinnerung lebendig bleibt.

Wer die Folgen eines wahnsinnigen Krieges erlebt hat, muss für immer für Frieden eintreten.

Ich freue mich, dass ich seit einigen Jahren in der Preußischen Tafelrunde teilnehmen darf mit interessanten Vorträgen und Gesprächen. Mein Vater hatte auch diese Treffe verweigert – er wollte immer nur nach vorne schauen. Doch für mich ist es ein Stück Verbundenheit mit ihm und auch mit unserer Geschichte.

Noch was: Kriminalfilme schaue ich nie – wie mein Vater – mit einer Ausnahme: Der „Masuren-Krimi“, denn der spielt in Pasym (ehem. Passenheim), dem Ort, aus dem der väterliche Teil meiner Familie stammt.

Pforzheim, im August 2025

Sabine Zeitler