Elisabeth Gierse, geb. Kahlfeld: Diese Dokumentation widme ich meinem Bruder Werner zur Vollendung seines 65. Lebensjahres im Jahre 1990. Darin zeige ich – im Folgenden – die wichtigsten persönlichen Erlebnisse meiner Flucht sowie Kindheitserinnerungen im Podcast und als Bericht zum Nachlesen.
Doch zunächst einiges zum geschichtlichen Hintergrund jener Jahre:
Das Memelland, das nördlich der Memel gelegene Gebiet Ostpreußens (seit 1422 deutsches Gebiet), wurde erst nach dem 1. Weltkrieg zu einem politischen bzw. landeskundlichen Begriff. Der Artikel 99 des Friedensvertrages zu Versailles vom 10. Januar 1920 enthielt den schicksalsschweren Beschluss, den 2657 qkm großen Landstreifen mit 150000 deutschen Einwohnern vom Deutschen Reich abzutrennen. Was danach werden sollte, stand sozusagen vorerst in den Sternen. Um keines der vom Deutschen Reich abgetrennten Gebiete an der deutschen Ostgrenze, die damals dem Reich, d. h. Deutschland, verloren gingen, hat es so viel Verwirrung und offene Fragen gegeben wie um das Memelgebiet.
Der erste entscheidende Schritt zur Notlösung wurde getan, als am 14. Februar 1920 eine französische Besatzung in Memel eintraf und am gleichen Tag Graf Lambsdorff die Verwaltung dem Vertreter der Alliierten Hauptmächte, dem französischen General Audry übergab. Graf Lambsdorff hatte bis dahin als Reichskommissar und Vertreter der deutschen Regierung die Verwaltungsgeschäfte geführt, wobei sich Sorge und Hoffnung die Waage hielten. Audry brachte zu seiner Unterstützung einen polnischen Dolmetscher mit – ein Zeichen dafür, welche verworrenen Vorstellungen in Paris über die Bevölkerungsstruktur dieses Gebietes herrschten. Die Proteste der deutschen Regierung wurden von der Entente in einer Note beantwortet, in der es heißt:
„Die alliierten und assoziierten Mächte weigern sich, zuzugeben,, dass die Abtretung des Gebietes dem Nationalitätenprinzip entgegengesetzt sei. Das sprachliche Gebiet ist immer litauisch gewesen,, die Mehrzahl der Bevölkerung nach Ursprung und Sprache litauisch. Die Tatsache, dass die Stadt Memel zu einem großen Teil deutsch ist,, rechtfertigt in keiner Weise das Verbleiben des ganzen Gebietes unter deutscher Hoheit. Es ist beschlossen worden, dass Memel und das benachbarte Gebiet den Mächten überlassen werde, weil die staatliche Zugehörigkeit der litauischen Territorien noch nicht bestimmt ist.“
Mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages wurde an die Stelle der Reichsgewalt die gemeinsame Verwaltung durch die alliierten Hauptmächte gesetzt.
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